Wer Albert Maier nach der Geschichte seines Arbeitgebers fragt, erntet einen ratlosen Gesichtsausdruck. "Ja mei", sagt der stämmige Mann und lässt sich in seinen Stuhl zurückfallen. 46 Jahre alt ist er, fast sein gesamtes Berufsleben hat er bei MAN in Augsburg Motoren gebaut. Davor stand sein Vater ein Arbeitsleben lang in denselben Werkhallen, davor der Großvater. "MAN gibt meiner Familie seit mehr als hundert Jahren Brot", sagt Maier.
Dennoch muss er kurz innehalten, wenn er etwas zur Geschichte sagen soll. So vieles ist passiert und anders geworden. Es ist verdammt schwer, bei MAN den Überblick zu behalten, selbst wenn einen so viel verbindet mit der Firma wie Albert Maier. Auf den ersten Blick ist der Konzern ein Monolith der deutschen Industriegeschichte: 13 Milliarden Euro Umsatz im Jahr, 54 000 Mitarbeiter auf der Lohnliste weltweit. MAN baut Schiffsmotoren, Lastwagen, Busse und Turbinen. Demnächst wird der Konzern 250 Jahre alt. Trotzdem steht kaum ein anderes Unternehmen in Deutschland so sehr für das, was gemeinhin als "radikaler Wandel" beschrieben wird.
MAN ist ein alter, ein stolzer Konzern, genauso wie Daimler oder ThyssenKrupp. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Daimler und ThyssenKrupp betraten vor langer Zeit ein Geschäftsfeld und sind ihm trotz aller neuen Technologien, Marktumbrüche oder Besitzerwechsel im wesentlichen treu geblieben. Daimler baut Autos, ThyssenKrupp steht für Stahl. MAN hingegen folgt einer anderen Blaupause. Der Konzern praktiziert seit zwei Jahrhunderten das, was in der Kunstsprache der Firmenlenker heute Portfoliomanagement heißt: Man kauft, was Zukunft verspricht, und stößt Bereiche ab, die nicht mehr passen.
Vor 30 Jahren, als der Lehrling Albert Maier das erste Mal im Blaumann die Fabrikhalle betrat, war MAN ein ganz anderes Unternehmen als heute. Damals wurden in Augsburg auch Öfen, Lampenschirme und Kochtöpfe zusammengebaut. Geblieben ist nur noch der Motorenbau.
Håkan Samuelsson reagiert auf die Frage nach der MAN-Geschichte geradezu euphorisch. Die Augen des Schwedens beginnen zu leuchten, und er sagt Sätze wie: "Der Wandel ist die eigentliche Kontinuität des Konzerns. Man war immer bereit, das zu ändern, was geändert werden musste." Samuelsson hat 2005 das Chefbüro in der Münchner MAN-Zentrale bezogen. Er findet es gut, dass der Konzern heute keine Öfen, Lampenschirme oder Kochtöpfe mehr baut. Der Schwede hat die MAN-Philosophie verinnerlicht. Wie viele seiner Vorgänger trat er an und verpasste dem Unternehmen in kurzer Zeit ein neues Gesicht.
Als er ankam, bestand das MAN-Reich aus zwölf verschiedenen Sparten. Nach nur gut zwei Jahren hatte der schnelle Schwede die Zahl auf vier gestutzt. Er kappte sogar eine Wurzel des Konzerns, die Drucksparte MAN Roland. Anders als die Lenker von Traditionsunternehmen wie Siemens konnte Samuelsson stets die Historie für sein Vorgehen bemühen. "Ich habe gesagt: Das sind notwendige Änderungen, wie es sie in der Geschichte von MAN schon häufig gab."
MAN ist also, obwohl mit seinen fast 250 Jahren einer der ältesten deutschen Konzerne, ein Vorreiter heute. Das, was heute als moderne Managementmethode gilt, haben sie immer schon praktiziert. Das sorgt für eine Historie, in der einem angesichts der vielen Übernahmen und Wandlungen leicht schwindlig wird. Der Konzern schürfte Kohle im Ruhrgebiet, produzierte Stahl und baute Tanks für die Ariane-Raketen. Selbst ein Weingut lieferte Erträge für die Bilanz. Davon ist nichts mehr übrig. Heute konzentriert sich MAN auf Nutzfahrzeuge und den Bau von Motoren.
Johannes Bähr kann dabei helfen, den Überblick zu wahren. Der Berliner Historiker arbeitet an einer MAN-Chronik und ist dabei zu folgendem Schluss gelangt: "In den entscheidenden Momenten hat MAN die Weichen richtig gestellt." Die Wandlungen und teils radikalen Umbrüche sind der Grund, warum der Konzern in 250 Jahren nicht altersschwach wurde.
Eine dieser entscheidenden Weichenstellungen wurde am 21. September 1920 vorgenommen. Im Unternehmensarchiv des Konzerns in Augsburg findet sich zwischen einer Million Dokumenten ein Brief. Den schrieb der Chef des Oberhausener Industriekonzerns Gutehoffnungshütte (GHH) dem Vorsitzenden des Aufsichtsrats von MAN in Augsburg. "Die volle Selbstständigkeit bleibt der MAN nur dann erhalten, wenn der von der Gutehoffnungshütte vorgeschlagene Weg beschritten wird." Übersetzt heißt das: Kommt freiwillig unter unser Dach, oder wir holen euch. Noch im selben Jahr, 1920, wurde die feindliche Übernahme vollzogen. Damit hatten die beiden Wurzeln des MAN-Familienstammbaums zueinandergefunden.
Die GHH war zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf großer Einkaufstour und übernahm Firmen, an die sie den Stahl ihrer Hütten liefern konnte. Der Maschinenbaukonzern MAN war ein lukratives Ziel, auch wenn man dort den glühenden Avancen aus dem Ruhrgebiet zunächst wenig abgewann. Die Süddeutschen fühlten sich in ihrer Selbstständigkeit wohl, das unüberschaubare Industriekonglomerat war ihnen unheimlich. Der GHH-Direktor und der MAN-Aufsichtsratschef verhandelten deshalb geheim. Der Vorstand durfte die Übernahme nur noch abnicken. Die GHH verleibte sich MAN ein. Dass sich die Machtverhältnisse später völlig umkehren sollten, ahnte damals noch keiner.
Durch die feindliche Übernahme erklärt sich auch, dass MAN im nächsten Jahr seinen 250. Geburtstag feiert. Seit dem Zusammenschluss ist die GHH fester Bestandteil der Firmenhistorie, auch wenn der Konzernname längst getilgt wurde.
Die Wurzeln der GHH liegen in Oberhausen im Stadtteil Osterfeld, abgedeckt unter grünen Plastikplanen. Archäologen graben dort in den backsteinernen Resten der St.-Antony-Hütte, der ältesten Eisenhütte des Ruhrpotts. Im Jahr 1758, einer Zeit, in der der Kölner Erzbischof dort noch das Sagen hatte, wurde in Osterfeld der erste Hochofen angeblasen. "Das ist die Wiege des Ruhrgebiets", sagt Burkhard Zeppenfeld vom Rheinischen Industriemuseum. Für ihn ist diese Hütte deshalb wichtig.
Und MAN liefert sie möglicherweise ein historisches Vorbild: Kurz nach St. Antony öffneten zwei weitere Hütten. Doch das Ruhrgebiet war zu klein für drei Eisenproduzenten - sie schlossen sich zur GHH zusammen. Ein Freiluftmuseum soll dort entstehen. Mit Unterstützung von MAN. Mittlerweile ist der Konzern stolz auf den Zusammenschluss mit der GHH. Im Unternehmensstammbaum sind die Münchner jetzt Nach-Nachfolger der St.-Antony-Hütte, gegründet 1758.
MAN steht heute vor einer ganz ähnlichen Situation. Die Münchner konkurrieren auf dem Lkw-Markt mit VW und der schwedischen Scania. Und auch wenn der Markt heute größer ist als das Ruhrgebiet - die drei Hersteller sind zu klein, um auf Dauer erfolgreich zu sein. MAN hat weltweit nur einen Marktanteil von drei Prozent. Deshalb startete Samuelsson vor einem Jahr den Versuch, Scania zu übernehmen - und scheiterte. VW, die Wolfsburger sind Großaktionär bei den Deutschen und bei den Schweden, blockte Samuelssons Versuch. Nun arbeiten die Konzerne an einer Lösung, die einvernehmlich sein soll, wie alle drei betonen. Allerdings: Vor drei Wochen schreckten Gerüchte MAN auf, Scania könne nun im Gegenzug mit Unterstützung von VW einen Übernahmeversuch starten.
Bei der GHH zahlte sich die Fusion die nächsten 100 Jahre aus. Heute hat MAN durch die vielen Firmenverkäufe mit dem alten Industriekonglomerat nicht mehr gemein als ein Bus mit einem Stück Kohle. Lediglich in den Augsburger Fabrikhallen von MAN Diesel lässt sich noch erahnen, dass beide Konzerne mal zusammenpassten. In der Gießerei glüht Metall, sprühen Funken, und es riecht nach abgebranntem Feuerwerk. 120 Schiffsmotoren baut MAN hier jährlich. Für den größten gießen die Arbeiter 90 Tonnen Flüssigeisen in eineinhalb Minuten in Form - und warten dann drei Wochen, bis der Motorblock abgekühlt ist. Auf die schweißtreibende Arbeit ist man stolz. "Ich steh auf diese Motoren, das ist mein Ding", sagt MAN-Urgestein Albert Maier.
Ein paar Etagen höher im Verwaltungsgebäude klingt das ähnlich, nur förmlicher. "Die Hälfte alle Schiffe auf den Weltmeeren fährt mit Motoren von MAN Diesel", sagt Georg Pachta-Reyhofen, Chef des Tochterkonzerns. Das Unternehmen ist im heutigen Konzern das traditionsreichste. Einer der größten deutschen Ingenieure, Rudolf Diesel, brachte dort seinen Motor zur Marktreife.
Aus dem Augsburger MAN-Zweig kamen außer Rudolf Diesels Motor weitere wegweisende Entwicklungen. So baute der Ingenieur Carl von Linde dort in den 1873 seine erste Kältemaschine. Das Unternehmen machte die folgenden Jahre die Hälfte seines Umsatzes mit den neuartigen Kühlschränken. Aber schon bald befand MAN die Sparte als nicht mehr zeitgemäß. Das lag vor allem daran, dass die Anlagen für Brauereien gebaut wurden, deren Bedarf schnell gedeckt war. MAN stellte die Produktion ein. Linde eröffnete sein eigenes Unternehmen - daraus entwickelte sich dann die heutige Linde AG, ebenfalls ein Dax-Konzern.
Dass am Hauptsitz des Unternehmens in der Münchner Landsberger Straße heute die drei silbernen Buchstaben MAN prangen und nicht etwa der Name eines Großindustriellen, ist auch ein Ergebnis einer Fusion. Im Jahre 1898 kam es zur zweiten bedeutenden Weichenstellung der Konzerngeschichte: Die Augsburger Firma, die sich durch Diesel und Linde einen guten Ruf erarbeitet hatte, schloss sich mit der Maschinenbau-Actien-Gesellschaft zusammen. Die Maschinenfabrik Augsburg Nürnberg war geboren - daher der Name MAN.
Initiator war Anton Rieppel, Direktor des Nürnberger Unternehmens. Er rettete sich förmlich in die Arme der Augsburger. Rieppel drückte ein schwerwiegendes Problem, er brauchte frisches Geld, was die Eigentümerfamilie des Nürnberger Werks aber nicht mehr zuschießen wollte. In der Fusion sah er die Lösung, bei den Augsburgern die richtige Braut. Denn dort lenkte Heinrich von Buz die Geschicke der Firma, der schon zu Lebzeiten "Bismarck der deutschen Maschinenindustrie" genannt wurde.
Unter Rieppel stieß MAN in immer neue Geschäftsfelder vor. Der Konzern spannte die höchste Eisenbahnbrücke Deutschlands, die 107 Meter hohe Müngstener Brücke. In Wuppertal baute MAN die berühmte Schwebebahn, das Wahrzeichen der Stadt.
Überlebt haben die Sparten trotzdem nicht - zumindest nicht unter dem Dach der MAN. Selbst die Nutzfahrzeuge, heute die wichtigste Sparte des Konzerns, standen zu Beginn der 80er-Jahre auf der Abschussliste. Die Lastwagen schrieben riesige Verluste. "Das war die größte Krise, die MAN durchlebt hat", sagt Anton Weinmann, heute Chef der MAN Nutzfahrzeuge.
Die Ölschocks der 70er-Jahre hatten dem Konzern stark zugesetzt. Zudem hatte sich MAN zu lange einige der wenigen Male in der Firmengeschichte um eine wichtige Weichenstellung gedrückt. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste die mächtige GHH ihr Stahl- und Kohlegeschäft abgeben. Das Industriekonglomerat, das einst MAN schluckte, war damit zu einer leeren Hülse verkommen. Die Motoren brummten längst im Süden, in Nürnberg und Augsburg.
Erst nachdem sich die GHH-Eigentümerfamilie Haniel Mitte der 80er-Jahre von ihren Anteilen getrennt hatte, setzte der damalige MAN-Chef Klaus Götte endlich zum Großumbau an. Um die Befindlichkeiten im Ruhrgebiet nicht überzustrapazieren, wurde MAN offiziell auf den Montankonzern verschmolzen. Faktisch übernahm die Tochter in Süddeutschland allerdings den Mutterkonzern aus dem Ruhrgebiet. Die Firmenzentrale wurde nach München verlegt.
Einmal in Fahrt, holte Götte zum großen Befreiungsschlag aus: Geschäftsbereiche, die nicht überlebensfähig seien, würden nicht mehr durch andere unterstützt, trug Götte für die damalige Zeit überraschend offen vor. "Sie werden aufgegeben." Den markigen Worten folgten Taten. Götte stieß viele Aktivitäten des einstigen Montankonzerns ab. "Wir haben stark geblutet", erinnert sich der heutige MAN-Betriebsratschef Lothar Pohlmann. Er kam über die GHH zu MAN, seit 1966 arbeitet er in dem Konzern.
Den Arbeitnehmervertretern verlangen die vielen Fusionen, Übernahmen und Verkäufe einiges ab. Pohlmann berichtet von heftigen Auseinandersetzungen, die nicht selten vor Gericht landeten. Trotz aller Konflikte fühlt er sich heute bei MAN "gut aufgehoben". Im Rückblick räumt er ein: "Vom Grundsatz her war der Umbau des Konzerns sicherlich richtig, aber für die Betroffenen waren es schmerzhafte Einschnitte."
Von dem einstigen stolzen Montankonzern GHH ist heute nur noch der Turbinenhersteller MAN Turbo in Oberhausen übrig geblieben. Und um den rankten sich wie um die anderen kleinen MAN-Tochterfirmen in den vergangenen zwei Jahren immer wieder Verkaufsgerüchte. Samuelsson widerspricht, einerseits. Andererseits stellt er aber auch klar: "In allem, was wir tun, müssen wir zu den Besten am Markt gehören. Das müssen alle Bereiche schaffen."
Momentan tun sie das. "Heute sind wir richtig aufgestellt. Sollte sich das in Zukunft ändern, werden wir über eine neue Struktur diskutieren", sagt Samuelsson. "Das war in der Vergangenheit so, und das wird in Zukunft so sein." Es kann also sein, dass sie schon bald das machen werden, was sie bei MAN schon immer gut konnten: verkaufen und nach neuen Sachen Ausschau halten.