Knapp zweieinhalb Jahre ist es her, dass ein 16-jähriger Radfahrer in Kaufbeuren (Ostallgäu) verunglückte. Ein Lkw-Fahrer hatte ihn beim Rechtsabbiegevorgang übersehen. Der Jugendliche, der gerade auf dem Weg zu seiner Ausbildungsstätte war, verstarb noch an der Unfallstelle. Heute erinnern Kerzen und ein sogenanntes „Ghostbike“ an die Tragödie, die sich nur ein paar Meter entfernt vom Gelände des Bauhofs ereignete. Die Mitarbeiter dort sind selbst tagtäglich mit großen Maschinen unterwegs. Um also die Gefahr zu minimieren, Radfahrer oder Fußgänger im toten Winkel zu übersehen, machte der Kaufbeurer Bauhof Nägel mit Köpfen: drei Müllsammelfahrzeuge und drei Lkw-Krankipper wurden seither mit elektronischen Abbiegeassistenten nachgerüstet. Eine solche Umrüstung kostet zwar Geld – in der kreisfreien Stadt waren es pro Fahrzeuge beispielsweise zwischen 1.500 und 2.000 Euro. Doch schon allein wegen der dadurch erhöhten Sicherheit für Passanten und Radfahrer macht sich eine solche Umrüstung bezahlt. Vor allem auch deshalb, weil das Ausrüsten von Kraftfahrzeugen mit Abbiegeassistenz-Systemen auch in diesem Jahr wieder vom Bund gefördert wird. Erst kürzlich, am 4. Mai, fiel der Startschuss für die neue Förderperiode. Der perfekte Anlass für Bauhof-online einmal nachzuforschen, welche Abbiegeassistenz-Systeme bei einer Umrüstung überhaupt gefördert werden und welche unterschiedlichen Funktionsweisen hinter den Produkten stecken.
Wer beruflich viel mit dem Lkw unterwegs ist, der kennt die Problematik nur zu gut: Vom Fahrerhaus aus ist selten eine uneingeschränkte Sicht auf die anderen Verkehrsteilnehmer möglich. Besonders Radfahrer und Fußgänger können im gefürchteten toten Winkel leicht übersehen werden. Einer der gefährlichsten Fahrmanöver ist dabei das Abbiegen nach rechts. Zwar sollen hier die zahlreichen Außenspiegel an den Fahrzeugen Abhilfe schaffen. Doch der Fahrer hat beim Abbiegevorgang mehr zu tun, als sich nur auf die Spiegel zu konzentrieren: Er muss unter anderem auch auf den Gegenverkehr und den Lenkradius seines Lkw achten. So harrt der Blick oftmals nur sehr kurz auf den Spiegeln. Mit einem elektronischen Abbiegeassistenten wird der Fahrer jedoch zusätzlich noch sowohl visuell als auch akustisch auf eine bestehende Gefahr hingewiesen. Ganz allgemein lassen sich die jeweiligen Funktionsweisen der Abbiegeassistenz-Systeme in drei Kategorien einteilen: Radar-, Ultraschall- oder Kamera-Software-basierte Systeme.
Radar- Ultraschall- oder Kamera-Software-Systeme
Zur ersten Kategorie zählt unter anderem der Abbiegeassistent MEKRA AAS der MEKRAtronics GmbH. Dieser ist in zwei Varianten erhältlich, besteht grundsätzlich aus einem Sensor, Kabelsatz und Anzeigedisplay, und ist daher auch einfach nachzurüsten: als CAN-Version zum Anschluss an eine FMS-Schnittstelle oder als GPS-Version mit beiliegender GPS-Antenne. Der robuste Sensor wird an der rechten Seite des Fahrzeugs angebracht. Hierbei handelt es sich um ein Objekterfassungssystem mit einem FMCW-Radarsensor. „Wir arbeiten mit Radar, weil das System bei Tag und Nacht, bei Nebel, Schnee oder Regen funktioniert und zuverlässig Warnmeldungen auslöst“, erklärt Dr. Michael Scheffold, Account Manager für Kommunal & Bau. Das System erkennt Personen und Fahrzeuge, die sich im toten Winkel befinden, und unterscheidet dabei zwischen bewegten und stationären Objekten. Bei Gefahr wird in der Fahrerkabine über das an der A-Säule montierte Display ein visuelles und, je nach Fahrmanöver und Gefahrensituation, ein akustisches Warnsignal ausgelöst. Der Abbiegeassistent kann zudem jederzeit um ein Kamera-Monitor-System oder weitere Sensoren, z.B. zur Rückraumüberwachung, erweitert werden.
„Wir arbeiten mit Radar, weil das System bei Tag und Nacht, bei Nebel, Schnee oder Regen funktioniert und zuverlässig Warnmeldungen auslöst.“ (Dr. Michael Scheffold, Account Manager für Kommunal & Bau bei MEKRAtronics GmbH)
Mit Ultraschall arbeitet dagegen der Abbiegeassistent TA-770 BSW der Brigade Elektronik GmbH und der Firma Wüllhorst GmbH & Co. KG. Das System besteht aus Sidescan® Ultraschall-Detektionssensoren, einer Weitwinkel-Seitenkamera, einem 7-Zoll-Monitor sowie einem Lenkwinkelsensor der Firma Wüllhorst. Bei der Zusammenarbeit wurde die optimale Montageposition der Sensoren ermittelt: Der erste Sensor wird rechts außen am Eck des Fahrerhauses montiert, die restlichen Sensoren folgen in gleichmäßigen Abständen, so dass am Ende ein Bereich von sechs Metern erfasst wird. Der Fahrer ist in der Lage, durch das Zusammenspiel von Ultraschallsensoren und Seitenkamera, den kritischen Bereich einzusehen. Zudem wird er durch ein dreistufiges akustisches und optisches Warnsystem frühzeitig auf Gefahren aufmerksam gemacht. Das ebenfalls integrierte Lenksystem schaltet den Abbiegeassistenten beim Lenkradeinschlag automatisch an.
Unter die dritte Kategorie, die Kamera-Software-Systeme, fällt der LUIS TURN DETECT®-Abbiegeassistent, der durch die Paul Wiegand GmbH vertrieben wird. Auch hier kommt eine Lenkwinkelsensorik zum Einsatz. Die Aktivierung des Systems kann optional aber ebenfalls durch das Einschalten des Blinkers oder über die Geschwindigkeit geschehen. Der Abbiegeassistent umfasst daneben einen 7-, 8- oder 10-Zoll-Monitor sowie eine Weitwinkelkamera. Außerdem lässt sich das System um eine Frontkamera erweitern, so dass ebenso querende Verkehrsteilnehmer erfasst werden können. Auch bei Dunkelheit arbeitet der Abbiegeassistent zuverlässig. Das Kamera-Software-System hat gegenüber anderen Produkten noch ein Alleinstellungsmerkmal, wie Sebastian Ruhl, Teamleiter Marketing bei Paul Wiegand, weiß: „Alle Technologien können Radfahrer in der ersten Reihe und an der Fahrzeugfront erfassen. Der LUIS TURN DETECT®-Abbiegeassistent erkennt darüber hinaus aber auch die in der zweiten Reihe, beispielsweise hinter parkenden Autos.“ Grund dafür sei die Anbauhöhe am Fahrzeug, mit der über die parkenden Autos hinweggesehen werden kann.
„Alle Technologien können Radfahrer in der ersten Reihe und an der Fahrzeugfront erfassen. Der LUIS TURN DETECT®-Abbiegeassistent erkennt darüber hinaus aber auch die in der zweiten Reihe, beispielsweise hinter parkenden Autos.“ (Sebastian Ruhl, Teamleiter Marketing bei Paul Wiegand)
Ein weiterer Vertreter der Kamera-Software-basierten Technik ist das TurnCAM®-SYSTEM der Rosho Automotive Solutions. „Die Basis des Systems bildet eine intelligente Bildbearbeitung. Dabei wird der Nahbereich seitlich vom Fahrzeug durch eine speziell entwickelte Seitenkamera überwacht“, erklärt ROSHO-Geschäftsführer Holger Schimmels. Bestandteile des TurnCAM®-SYSTEM sind neben der Seitenkamera auch eine Blind Spot Detection Box, die als Blackbox über eine Erkennungsfunktion für die Seitenkamera verfügt. An diese lassen sich zudem verschiedene Ausführungen von Monitoren sowie Rückfahrkameras anschließen. Das System selbst ist dabei für insgesamt bis zu vier Kameras – an der Front-, rechts und links sowie an der Rückseite – ausgelegt. Erkennt es eine Person oder ein Objekt im Gefahrenbereich, wird der Fahrer daraufhin akustisch über einen kleinen Fahrzeuglautsprecher sowie optisch über ein Display gewarnt.
Auch der ICA-Turn Assist AAS der Axion AG funktioniert auf Grundlage der Kamera-Software-Technologie. Das System erfasst den rechten Bereich neben dem Fahrzeug und überwacht diesen, bei der Installation definierten Bereich, auch beim Abbiegen. Mithilfe eines softwarebasierten Algorithmus erkennt das System Bewegungen rechts neben dem Fahrzeug, welche es als gefährlich oder nicht einstufen kann. Droht Gefahr, erhält der Fahrer auch hier akustische und optische Signale über eine farbliche Veränderung des Überwachungsbereichs im Monitor sowie den zum System dazugehörigen Buzzer. Weitere Bauteile des Abbiegeassistenten sind eine ICA-Control-Box, eine Front-/Seitenkamera sowie ein CRV 7005M Monitor. Es gibt auch noch die erweiterte Ausführung mit einem Lenkeinschlagsensor.
Abbiegeassistenten mit Allgemeiner Betriebserlaubnis (ABE)
Die eben genannten fünf Abbiegeassistenz-Systeme waren übrigens die ersten, die vom Kraftfahrt-Bundesamt eine Allgemeine Betriebserlaubnis (ABE) erhalten haben. Dafür mussten die Abbiegeassistenten ein aufwendiges Prüfverfahren bei einem Technischen Dienst absolvieren. Mit Erhalt der ABE steht nun fest, dass die Sicherheitssysteme sämtliche technischen Anforderungen erfüllen, die das Bundesverkehrsministerium bei Abbiegeassistenzsystemen für die Aus- und Nachrüstung von Nutzfahrzeugen mit einer zulässigen Gesamtmasse von mehr als 3,5 Tonnen sowie Kraftomnibusse mit mehr als neuen Sitzplätzen einschließlich des Fahrerplatzes für wichtig erachtet. Zu diesen Anforderungen zählt beispielsweise ein konkret formulierter Abdeckungsbereich. Dieser umfasst ein Rechteck von 0,9 bis 2,5 m Seitenabstand vom Fahrzeug, von der vorderen rechten Ecke der Maschine bis sechs Meter hinter die Fahrzeugfront. Eine weitere Voraussetzung ist unter anderem die optische Signalisierung von gefährdeten Radfahrern, mindestens im Abdeckungsbereich. Nach heutigem Stand haben insgesamt 14 Abbiegeassistenz-Systemen bislang eine ABE erhalten. Eine Übersicht der Produkte und Hersteller finden sich auf der Homepage des Kraftfahrt-Bundesamtes unter www.kba.de
Wer mit dem Gedanken spielt, sein Nutzfahrzeug mit einem Abbiegeassistenten aus- oder nachzurüsten, für den lohnt sich der Blick auf diese Liste. Denn mit Erhalt der ABE zählen diese Produkte auch zu den Systemen, die auf jeden Fall die technischen Vorgaben für eine Förderung erfüllen. Seit dem 4. Mai 2020 läuft das Förderprogramm „Abbiegeassistenzsysteme“ (AAS), das besonders auch für Kommunen interessant ist. Laut dem Bundesamt für Güterverkehr wurden bereits in der ersten Antragswoche insgesamt 535 Förderanträge für rund 3.300 Abbiegeassistenz-Systeme gestellt. Gefördert wird die Ausrüstung von Nutzfahrzeugen mit einer zulässigen Gesamtmasse von mehr als 3,5 Tonnen und Kraftomnibussen mit mehr als neun Sitzplätze inklusive Fahrersitzplatz, die in Deutschland für die Ausübung gewerblicher, freiberuflicher, gemeinnütziger oder öffentlich-rechtlicher Tätigkeiten angeschafft und betrieben werden. Hierunter fallen sowohl Nachrüstungen als auch die Ausrüstung von Neufahrzeugen. Die Zweckbindungsfrist beträgt dabei zwei Jahre. Die Förderungshöhe beläuft sich auf höchstens 80 Prozent der zuwendungsfähigen Ausgaben bzw. maximal 1.500 Euro für jede Einzelmaßnahme. Von dieser werden maximal zehn pro Jahr gefördert. Bei einer Genehmigung der Förderung bleiben fünf Monate Zeit, um die Nachrüstung abzuschließen. Absolute Deadline hierfür ist der 2. November 2020, da dann die Förderperiode für heuer endet. Anträge können ausschließlich in elektronischer Form über das eService-Portal des Bundesamtes für Güterverkehr gestellt werden: https://antrag-gbbmvi.bund.de/
Henne und Beutlhauser unterstützen ihre Kunden beim Thema Abbiegeassistent
Um letztendlich dann auch wirklich die Förderung zu erhalten, muss der Abbiegeassistent im Anschluss an den Einbau noch einmal von einem Technischen Dienst überprüft werden, erklärt Michael Scheffold von Mekratronics. Denn so gut wie alle Systeme lassen sich problemlos von qualifizierten Werkstattmitarbeitern einbauen. Je nach Produkt, Fahrzeugtyp und Routine dauert ein solcher Einbau oftmals zwischen einem halben und einem ganzen Tag. So übernimmt beispielsweise der Maschinenhändler Beutlhauser den Einbau von Abbiegeassistenz-Systemen des Herstellers Brigade. Immer wieder gibt es dazu auch spezielle Angebote, wie derzeit für die Nachrüstung von Unimog an den Kommunalstandorten in Bayern und Thüringen. Um es ihren Kunden noch einfacher zu machen, kümmert sich die Henne Nutzfahrzeuge GmbH nicht nur um den Einbau des Abbiegeassistenten in das gewünschte Fahrzeug sowie die Inbetriebnahme und die TÜV-Eintragung des Assistenzsystems. Viel mehr wickelt Henne darüber hinaus auch die gesamte Förderung mit Antragstellung und dergleichen ab. Hierbei arbeitet der Unimog-Generalvertreter mit der MEKRA LANG Group zusammen.
Abschließend sei noch gesagt: Über eine Nach- bzw. Umrüstung von Nutzfahrzeugen und Lkw mit Abbiegeassistenz-Systemen nachzudenken, macht nicht nur wegen der Sicherheit und zu erwartenden Förderung Sinn. Vielmehr ist nach heutigem Stand vorgesehen, Abbiegeassistenz-Systeme durch eine Verordnung der EU-Kommission verpflichtend einzuführen. Diese soll für neue Fahrzeugtypen ab 2022 und für alle Neufahrzeuge ab 2024 gelten.
Bilder: Hersteller